Mittwoch, 25. Juli 2018

Könnt ihr eigentlich alle mal für einen Moment die Fresse halten?

Um das mal vorauszuschicken: Özil ist mir scheißegal. Fußball ist mir scheißegal.

Aber ist das nervige Rumgehacke auf Özil, das von nichts anderem getragen wird als der latent rassistischen Grundstimmung in Deutschland und denen, die damit medial und politisch Quote machen, echt nötig? Geschweige denn angemessen?

Diese ständige Skandalisierung der banalsten Geschehnisse geht mir sooooo auf den Sack.

Seit wann erwartet man von Fußballern eigentlich politischen Sachverstand? Ob das Foto mit Erdogan nun richtig war oder nicht, kalkuliert oder einfach nur saudumm, kann uns doch Wurscht sein.
Fakt ist doch: Deutschland macht Geschäfte mir Erdogan, Diktator hin, Kriegstreiber her. Erdogan führt Krieg gegen Teile der türkischen Bevölkerung, und Deutschland liefert die Panzer dazu. Erdogan hält Resteuropa einen Teil der Flüchtenden vom Leib, zu welchem Preis, möchte man gar nicht wissen. Merkel hat Erdogans Hand geschüttelt, Friedensfürst und coolster POTUS ever Obama auch, der Papst, Sigmar Gabriel auch, und wenn loud mouth Heiko muss, dann wird auch er die Hand des Präsidenten schütteln.

Man frage sich auch selbst: Wenn ein Machtmensch wie Erdogan, der dafür sorgen kann, dass deine in der Türkei lebenden Verwandten weggesperrt werden, der dir auf der andern Seite aber auch Türen weit öffnen kann, wenn du in der Türkei Geschäfte machen willst, wenn so jemand dich fragt, ob du ein Foto mit ihm machst: Wer würde da sofort "nein" sagen?

Apropos Obama: Wenn Özil sich mit Obama hätte fotografieren lassen, dem Mann, der Drohnenterror endgültig zu einem legitimen Mittel der Kriegführung gemacht hat, der entschieden hat, im CIA-Folterskandal von einer Strafverfolgung abzusehen, der aber nicht bereit war, Snowden zu begnadigen, der trotz mehrfacher Versprechen den illegalen, dem Völkerrecht widersprechendem Folterknast Guantanamo nicht dicht gemacht hat, wenn Özil sich also mit diesem Mann hätte fotografieren lassen, hätte kein Mensch sich aufgeregt. Denn Image ist alles: Erdogan ist ein schnauzbärtiger, hysterischer, machtgieriger Diktator, Obama ist schwarz, hip und cool.

Heinz Rühmann, Star des deutschen Vor-, Während- und Nachkriegskinos, hat Hitler die Hand geschüttelt. Das hat seiner Beliebtheit nach dem Krieg aber (fast) keinen Abbruch getan.

Fickt euch doch alle, ihr verdammten Heuchler. Plötzlich hat jeder eine Meinung zu Özil, selbst  Leute, von denen man noch nie gehört hat, und posaunt diese ungefragt heraus. Sogar
kriminelle Fußballer, die selbst schon allen möglichen Widerlingen aus Politik und Medien die Hand geschüttelt haben.

Das Ganze erinnert mich an den Protest schwarzer Sportler bei der Olympiade 1968 in Mexiko. Zwei schwarze Sprinter symbolisierten damals während ihrer Siegerehrung durch diverse Accessoires ihre Verbundenheit mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Einer der Sportler damals dazu: „Wenn ich siege, bin ich Amerikaner, kein schwarzer Amerikaner. Aber wenn ich etwas Schlechtes mache, sagen sie, ich sei ein Neger. Wir sind schwarz und wir sind stolz darauf. Das schwarze Amerika versteht, was wir heute gemacht haben“ (Quelle: Wikipedia). Man tausche "schwarz" gegen "türkisch" und "Amerikaner" gegen "Deutsche", und voila: Das Zitat könnte 1:1 von Özil stammen. Die naheliegende und einigermaßen schockierende Frage wäre, ob wir heute, 50 Jahre später, in Deutschland eine ähnliche Stimmung haben wie im rassistischen Amerika der 60er Jahre.
Wobei man nicht vergessen darf, dass Özil ja mit seinem Foto wohl nicht einmal ein tiefgehendes politisches Statement abgeben wollte.
Die Reaktion des IOC damals erinnert ebenfalls an die verlogene Moraldebatte heute.